Die Geschichte von Innerbraz im Kurzüberblick

Manfred Tschaikner

Warum ist eigentlich Braz ein geteiltes Dorf?

 Wenn man von Bludenz kommend den Geländeanstieg beim Weiler Radin hinter sich gelassen beziehungsweise vom Arlberg her die Talenge westlich von Dalaas durchquert hat, öffnet sich die Landschaft zu einem Becken mit einem beeindruckenden Bergpanorama und ausgedehnten Wiesenflächen, die von den einst im südlichen Vorarlberg ansässigen Rätoromanen „Prats“ genannt wurden. Nichts deutet darauf hin, dass dieser Raum seit undenklichen Zeiten von einer Grenze durchzogen wird, die Braz zu einem geteilten Dorf werden ließ. Während der östliche oder innere Bereich des Talbeckens eine eigene Gemeinde bildet, gehören die westlichen oder äußeren Gefilde zum etwa sieben Kilometer weit entfernten Bludenz. Braz besteht somit aus einer Gemeinde und einem Stadtteil. Wie es dazu gekommen ist, darüber rätselt selbst mancher Einheimische.

Die Antwort auf die Frage führt weit in die Vergangenheit zurück zu den frühesten Verwaltungsstrukturen im Tal. Im Zuge des mittelalterlichen Siedlungsausbaus bildeten die beiden Urpfarren Bludenz und Nüziders ein Netz von Filialkirchen in den sie umgebenden Tälern. Der Bludenzer Pfarrverband erstreckte sich dabei ins obere Tal der Ill, ins Montafon, jener von Nüziders nicht nur in den Raum von Blumenegg, sondern auch ins Klostertal bis an den Arlberg hinauf. Hier erfolgte die Abgrenzung der Sprengel von Nüziders und Bludenz entlang dem Brazer Mühlebach, um den damals nur wenige Gehöfte gestanden sein werden.

Wann die Grenze dort gezogen wurde, bleibt unbekannt. Es muss jedenfalls lange vor dem frühesten urkundlichen Nachweis für die Zugehörigkeit von Außerbraz zu Bludenz geschehen sein, denn dieser liegt erst für das Jahr 1408 vor. Dass die Grenze aber schon im Mittelalter am Mühlebach verlief, belegt ein Schriftstück vom August 1481, worin „Lötsch im Bludenzer Kirchspiel“ erwähnt ist. Als „Kirchspiele“ bezeichnete man zu jener Zeit selbständige Pfarrgemeinden, deren Wirkungsbereich noch keineswegs auf das geistliche Leben beschränkt war, sondern auch die wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben der Gemeinwesen umfasste.

Während der äußere Dorfteil von Braz stets beim Kirchspiel Bludenz verblieb, löste sich der innere Teil schrittweise aus dem Pfarrverband von Nüziders und entwickelte sich seit dem ausgehenden Mittelalter zu einem selbständigen Gemeinwesen. Dieser Prozess erfolgte allerdings deutlich langsamer als in den ehemals ebenso zu Nüziders gehörenden Orten Klösterle und Dalaas, die bereits 1386 unabhängige Pfarren wurden. Die 1383 erwähnte geistliche Stiftung bei der Brazer Nikolaus-Kapelle wurde erst im Jahr 1449 zur Kuratie erhoben. Noch im 16. und 17. Jahrhundert bezeichnete man sie als Filialkirche der Pfarre Nüziders, obwohl sich die Innerbrazer Gemeinde de facto längst verselbständigt hatte. Sie soll schon spätestens um 1500 ohne formellen Akt zu einem eigenen Kirchspiel geworden sein. Als letzter Schritt der Trennung von Nüziders kann die Ablösung der Zehentpflicht im Jahr 1779 gelten.

An dieser Entwicklung des inneren Dorfteils versuchte der äußere zu seinem Nutzen teilzuhaben. Dazu schlossen die „Gemeinde und Nachbarschaft außerhalb dem Bach in Braz im Bludenzer Kirchspiel“ und die „Gemeinde und Nachbarschaft des Kirchspiels Braz inderhalb dem Bach“ im August 1577 einen Vertrag, der den Außerbrazern gegen eine Stiftung von 100 Rheinischen Gulden den regulären Kirchgang nach Innerbraz „wie anderen Kirchspielsgenossen“ gewährte und es ihnen ermöglichte, die Dienstleistungen der dortigen Priester und Mesner gegen gebührendes Entgelt in Anspruch zu nehmen. Dazu zählten Taufen, die damals gebräuchlichen Aussegnungen von Kindbetterinnen oder Versehgänge, nicht jedoch Beerdigungen, die weiterhin in Bludenz zu erfolgen hatten.

Wie heikel solche Kirchspielsgrenzen übergreifende Regelungen aber waren, zeigten die dadurch ausgelösten schweren Zerwürfnisse um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Damals beschwerten sich die Innerbrazer darüber, dass die Außerbrazer sie auf Grund ihrer großen Zahl „in der Kirche übernahmen“, sich aber dennoch weigerten, zur baulichen Erhaltung des Gotteshauses beizutragen. Im Rahmen dieser Streitigkeiten hinderten die Innerbrazer ihren Pfarrer und den Mesner 1665 sogar mit Gewalt daran, die Nachbarn außerhalb des Bachs in geistlichen Angelegenheiten zu betreuen. Außerbraz war übrigens tatsächlich schon in der Frühen Neuzeit stark bevölkert. So bildete es neben der Altstadt stets die größte Außensiedlung der Landgemeinde Bludenz. Um 1630 zum Beispiel lebte jeder fünfte Bludenzer Einwohner in Außerbraz.

Im ausgehenden 17. Jahrhundert bot eine längst fällige Neuordnung der Verhältnisse zwischen dem Montafon, der Stadt Bludenz und der Herrschaft Sonnenberg Aussichten auf eine Überwindung der Teilung des Brazer Talbeckens. In diesem Rahmen bemühten sich zahlreiche Bewohner von Außerbraz um einen Anschluss an das benachbarte Kirchspiel, was unter den damaligen Voraussetzungen noch einer politischen Vereinigung gleichgekommen wäre. Viele Stimmen wandten sich allerdings dagegen, denn damit wäre ein Verlust des Weiderechts auf den guten Bludenzer Allmeingründen westlich des Grupser Tobels verbunden gewesen. Letztlich verhinderte der Stadtmagistrat mit Unterstützung des Churer Bischofs die sogenannte „brazische Separation“. Um jene Zeit war übrigens auch ein Anschluss von Innerbraz an Bludenz im Gespräch gewesen.

Anstatt dass also im Rahmen des sogenannten Auswechslungsvertrags von 1695 die Grenze durch das Dorf Braz aufgehoben worden wäre, verfestigte sie sich vielmehr von einer Pfarr- zu einer Herrschaftsgrenze. Als nämlich die Grafen von Werdenberg ihr Territorium im Süden Vorarlbergs um 1355 geteilt hatten, zählten beide Teile von Braz zur Herrschaft Sonnenberg, deren Hauptort Nüziders bildete. Die Weiler außerhalb der ummauerten Stadt Bludenz gehörten zwar zu ihrer Pfarre, nicht aber zur gleichnamigen Herrschaft. Diese umfasste allein die heutige Altstadt und – ohne direkte Landverbindung – das Montafon, während sich die Herrschaft Sonnenberg noch ohne die spätere Unterbrechung im Raum Bludenz von Frastanz bis an den Arlberg erstreckte. Im Jahr 1695 jedoch wurde der ländliche Teil der Pfarre Bludenz von Sonnenberg gelöst und der Herrschaft Bludenz zugeordnet, sodass sich fortan durch Braz eine Herrschaftsgrenze zog. Diese wirkte sich allerdings nicht besonders schwerwiegend aus, denn die Herrschaften Bludenz und Sonnenberg wurden gemeinsam vom Schloss Bludenz aus verwaltet und gehörten damals im Gegensatz zur Herrschaft Blumenegg beide zu Österreich.

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kam es noch zu einem vergeblichen Versuch, für den Sprengel Außerbraz eine eigene Kuratie zu errichten. Wenigstens teilweise überwunden wurde die Grenze im Dorf schließlich durch eine allerhöchste Entscheidung im Rahmen der Reformen Kaiser Josefs II., in deren Gefolge Außerbraz im Juli 1785 der Pfarre „Braz inner dem Bache“ einverleibt wurde, was nunmehr auf Grund einer klareren Scheidung von weltlichen und kirchlichen Belangen leichter möglich war. Wie konfliktträchtig aber selbst unter diesen Voraussetzungen eine solche Neuorganisation war, zeigen die daraus resultierenden generationenlangen Streitigkeiten zwischen den beiden Ortsteilen um die von den Außerbrazern zu entrichtenden Beiträge an die nunmehr gemeinsame Pfarre. Sie konnten erst nach 128 Jahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts beigelegt werden.

Wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen scheint es in der Folge auf politischer Ebene zu keinen ernsthaften Bestrebungen zur Loslösung von der Stadtgemeinde Bludenz und zur Vereinigung mit der Gemeinde Innerbraz mehr gekommen zu sein. So erinnert die Grenze mitten durch das Dorf Braz letztlich bis heute an die frühesten Zeiten der räumlichen Erschließung des südlichen Vorarlberg, als noch nicht absehbar war, welche Schwierigkeiten und Eigentümlichkeiten damit verbunden sein würden.